Voltaire-Preis 2024 geht an Forschende aus Äthiopien und Belarus
Die Universität Potsdam verleiht ihren „Voltaire-Preis für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ erstmals an gleich zwei Persönlichkeiten, die sich in besonderer und doch sehr unterschiedlicher Weise für die Freiheit von Forschung und Lehre einsetzen. Ausgezeichnet werden die belarussische Politologin und Publizistin Olga Shparaga und der äthiopische Geisteswissenschaftler und Pädagoge Gerawork Teferra Gizaw. Um das herausragende Engagement der beiden Forschenden zu würdigen, hat die Friede Springer Stiftung in diesem Jahr für den mit 5.000 Euro dotierten Preis einmalig insgesamt 10.000 Euro zur Verfügung gestellt.
Gemeinschaftsarchiv für Flüchtlingslager – Beständigkeit inmitten der Vergänglichkeit
Der aus Äthiopien stammende Gerawork Teferra Gizaw lebt und arbeitet im Kakuma-Flüchtlingslager in Kenia, wo ihn die Potsdamer Historikern Prof. Dr. Marcia Schenck 2016 als Teilnehmer ihres Kurses zur globalen Geschichte kennenlernte. „Er lernte unglaublich schnell und eignete sich die Fähigkeiten eines mündlichen Historikers an, die er anschließend nutzte, um verschiedene Facetten des Lagerlebens zu erforschen“, berichtet Schenck. „Unsere Begegnungen in den behelfsmäßigen Klassenzimmern des Lagers markierten den Beginn einer bereichernden Zusammenarbeit, die in gemeinsame Veröffentlichungen, Unterrichtsinitiativen und erhellende Diskussionen mündete.“
Im Kakuma Refugee Camp arbeitet Gizaw derzeit für Jesuit Worldwide Learning und die Xavier University als Academic Adviser und Learning Facilitator. Ein zur 30-jährigen Campgeschichte entstehendes Gemeinschaftsarchiv, das sich auf Interviews, Videos und Haushaltsgegenstände stützt, soll das Vermächtnis der Beständigkeit inmitten der Vergänglichkeit bezeugen. Doch Gizaws außergewöhnliches Engagement geht über geografische Grenzen hinaus und dehnt seinen Einfluss auf internationale Plattformen aus. Seine Vorträge, die aufgrund von Reisebeschränkungen oft virtuell stattfinden müssen, vermitteln tiefe Einblicke in Vertreibungs- und Postkonfliktszenarien und bringen Forschende und Praktiker zu einem sinnvollen Diskurs zusammen. Seine Forschungsarbeiten, die im Camp unter schwierigen Bedingungen und mit begrenzten Ressourcen entstanden, sind Ausdruck seiner wissenschaftlichen Strenge und seines Durchhaltevermögens, betont Marcia Schenck in ihrer Laudatio.
Als Pädagoge und Mentor verfolge Gizaw einen Ansatz, der weit über das konventionelle Klassenzimmer hinausgehe. Seine Beteiligung an einem semesterlangen E-Mail-Dialog mit Potsdamer Studierenden, die sich mit der Geschichte von Geflüchteten befassen, sei ein Beispiel für sein Engagement zur Förderung des globalen Dialogs. „In Gerawork Gizaw sehen wir den Inbegriff eines Gelehrten und Humanisten. Sein unerschütterlicher Einsatz für die Wissenschaft als Instrument des Dialogs, des Verständnisses und der Veränderung ist inspirierend. Seine Arbeit, die er in einem schwierigen Umfeld geleistet hat, zeugt von seiner Entschlossenheit, zu einer verständnisvolleren, toleranteren und gerechteren Welt beizutragen“, sagt die Laudatorin. Der Voltaire-Preis würdige nicht nur seine bemerkenswerten Leistungen, sondern verleihe seiner Stimme auch mehr Gewicht, wodurch sein Einfluss auf ein breiteres Publikum ausgeweitet werde und er seine unschätzbare Arbeit im Kakuma-Flüchtlingslager und darüber hinaus fortsetzen könne.
Stimme für ein freiheitlich-demokratisches Europa
Die politische Philosophin Olga Shparaga gilt als eine der wichtigsten öffentlichen Stimmen der belarussischen Oppositionsbewegung. „Als Politikwissenschaftlerin erweitert sie unser Wissen über die Zivilgesellschaft und die Entwicklung einer europäischen Identität im postsowjetischen Raum. Als Aktivistin hat sie sich mit großem Mut für den friedlichen Machtwechsel in ihrem Land eingesetzt“, sagt Laudatorin Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin.
Im Exil wirbt Olga Shparaga heute für ein freiheitlich-demokratisches Europa jenseits der Grenzen der Europäischen Union. Neben ihrer akademischen Forschung und Lehre hat sie sich vielfach journalistisch betätigt und zwischen Ost- und Westeuropa vermittelt. Wegen ihrer Mitgliedschaft in dem von Svetlana Tichanowskaja gegründeten Koordinationsrat der belarussischen Protestbewegung, der den friedlichen und geregelten Machtwechsel organisieren sollte, wurde sie im Oktober 2020 vorübergehend inhaftiert. Daraufhin floh sie, um einem Strafprozess zu entgehen, ins Exil nach Vilnius. Bis zum Frühjahr 2022 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; derzeit ist sie Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien.
Olga Shparaga befasst sich mit Fragen nationaler und sozialer Identitätsbildung und kollektiver Erinnerungspolitik, mit dem aktuellen Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit den Widerstandsbewegungen in Osteuropa und mit der europäischen politischen Identität über die EU hinaus, aber auch mit der Rolle der Kunst in der belarussischen Gegenwartsgesellschaft. 2021 erschien bei Suhrkamp ihre Monografie „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht: Der Fall Belarus“, für deren Originalfassung sie den Preis des belarussischen PEN erhielt. Darin analysiert sie die Struktur der belarussischen Demokratiebewegung und zeigt eindrücklich, warum es gerade geschlechterpolitische Fragen sind, die das Zentrum der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung bilden und zugleich den besonderen Hass der autokratischen Regimes erregen.
„Olga Shparaga betreibt politiktheoretische Analyse aus der Perspektive einer Philosophin mit breiter historischer Bildung und verbindet ihre Forschung mit unerhört mutigem politischen Engagement. Ihr zentrales Anliegen war und ist, für grenzüberschreitende Solidarität gegen rechten Autoritarismus und russischen Neo-Imperialismus zu werben und für ein freies Europa einzutreten, das über die Grenzen der EU hinausreicht“, sagt Barbara Stollberg-Rilinger. Der Voltaire-Preis für Olga Shparaga würdige nicht nur eine hochverdiente Wissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin. Er soll auch dazu beitragen, der belarussischen Freiheitsbewegung wieder die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen und zu demonstrieren, dass man sie im Westen nicht verloren gibt, so die Laudatorin.
Hintergrund zum Voltaire-Preis
Den von der Friede Springer Stiftung geförderten „Voltaire-Preis für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ verleiht die Universität Potsdam seit 2017. Ausgezeichnet wurden bislang die türkische Politologin Dr. Hilal Alkan, die den Krieg in den kurdischen Gebieten und das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Zivilisten anprangerte und daraufhin ihre Anstellung verlor, die guatemaltekische Soziologin Dr. Gladys Tzul Tzul, die sich für indigene Völker in Mittelamerika engagiert, und der afghanische Philosoph Ahmad Milad Karimi für sein fachliches Engagement als Mittler zwischen den Kulturen. Preisträger des Jahres 2020 war der Medien- und IT-Rechtler Gábor Polyák, der für seinen unermüdlichen Einsatz für die Presse- und Medienfreiheit in Ungarn geehrt wurde. 2021 ging der Preis an die Politologin und Menschenrechtsaktivistin Elisabeth Kaneza für ihren Kampf gegen Diskriminierung und 2022 an den aus Kambodscha stammenden Historiker und Politologen Duong Keo, der zu einem bewussteren Umgang mit der Vergangenheit seiner Heimat beiträgt. 2023 wurde die in Hongkong geborene Juristin und Autorin Amy Lai für ihren Einsatz für Meinungsfreiheit gewürdigt.
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